Pressemitteilungen der Ministerien
Rede von Bundesratspräsident Prof. Dr.
Wolfgang Böhmer in der 784. Bundesratssitzung zum Gedenken an die Verfolgung
und Ermordung von Sinti und Roma in der Zeit des Nationalsozialismus am 20.
Dezember 2002 in Berlin
20.12.2002, Magdeburg – 786
- Staatskanzlei und Ministerium für Kultur
Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 786/02
Staatskanzlei - Pressemitteilung
Nr.: 786/02
Magdeburg, den 20. Dezember 2002
Rede von Bundesratspräsident Prof. Dr.
Wolfgang Böhmer in der 784. Bundesratssitzung zum Gedenken an die Verfolgung
und Ermordung von Sinti und Roma in der Zeit des Nationalsozialismus am 20.
Dezember 2002 in Berlin
Es gilt das gesprochene Wort!
(Anrede!)
In dieser Woche, am 16.
Dezember, jährte sich zum 60. Mal der Tag des berüchtigten ¿Auschwitz-Erlasses¿
einer früheren deutschen Regierung. Mit ihm wurde die Deportation aller noch im
Reichsgebiet und in besetzten Ländern befindlichen Sinti und Roma in das
Vernichtungslager Auschwitz verfügt. Bereits vorher mussten Sinti und Roma mit
zunehmenden Repressalien leben. Bereits vorher wurden sie aus ihren Wohnungen
vertrieben und auf Sammelplätzen unter Polizeibewachung zusammengefasst,
bereits vorher durften ihre Kinder nicht mehr die Schule besuchen.
Die Nürnberger Rassengesetze,
die auf sie ebenso wie auf die jüdischen Bürger Anwendung fanden, verboten ihnen
die Heirat mit Ariern. Mit dem sogenannten ¿Asozialenerlass¿ des
Reichsinnenministers vom April 1938 waren sie als sogenannte ¿Landfahrer
(Zigeuner)¿ pauschal gebrandmarkt worden. In der Folge wurden bereits vor
Beginn des Zweiten Weltkrieges Tausende von ihnen in die Konzentrationslager
des Dritten Reiches geschafft.
In den Magdeburger Polizeiakten
ist beispielsweise über einen verwitweten 36jährigen Sinto, Musiker und Vater
von vier Kindern, vermerkt: ¿Im Jahre 1937 und in diesem Jahre wurde ihm der Wandergewerbeschein
versagt. Seit dieser Zeit ist er ohne jede Beschäftigung gewesen. Nach den
getroffenen Feststellungen ist er als arbeitsscheuer Mensch anzusehen. Er ist
hier kriminell noch nicht in Erscheinung getreten.¿ Mit dieser Begründung ist
der Mann in das Konzentrationslager Buchenwald eingewiesen worden.
Die Verfolgung und Ermordung
Hunderttausender von Sinti und Roma nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in
den von Deutschland im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebieten war ein
furchtbares, nicht wieder gutzumachendes Verbrechen. Es markiert wie die
Ermordung von Juden, politisch Andersdenkenden, Homosexuellen und Behinderten
das grauenvollste Kapitel deutscher Geschichte. Das Leid, das damit über
unzählige Familien gebracht wurde, entzieht sich unserem Vorstellungsvermögen.
Es kann nur von den Verfolgten und Misshandelten selbst und ihren Angehörigen
wirklich ermessen werden.
Unter uns sind heute Überlebende
und Nachkommen derer, die den nationalsozialistischen Verbrechen zum Opfer
fielen. Unter uns sind ebenfalls Vertreter der Organisationen der Sinti und
Roma in Deutschland. Gemeinsam wollen wir des Tages gedenken, der den
organisierten Mord an den Sinti und Roma besiegelte.
Dieses Gedenken ist unsere
Pflicht. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat uns Deutsche in diese Pflicht
genommen. Ihr können und wollen wir uns nicht entziehen. Gedenken darf aber
keine Pflichtübung sein. Deshalb müssen wir uns in unserem Gedenken auch
unbequemen Fragen stellen. Gedenken darf nicht in Ritualen erstarren. Wir müssen
bereit sein, den Blick immer wieder neu auf unsere Geschichte zu richten und
sie kritisch zu hinterfragen. Vor allem aber müssen wir prüfen, welche Lehren
wir aus ihr gezogen haben und ob wir diese Lehren in unserem heutigen Denken
und Handeln beherzigen.
Der 16. Dezember 1942 war ein
schrecklicher Höhepunkt in der Verfolgung der Sinti und Roma. Doch wir dürfen
unseren Blick nicht auf dieses Datum verengen. Die Repressalien gegen Sinti und
Roma haben in der Zeit des Nationalsozialismus ein nie gekanntes, verbrecherisches
Ausmaß erreicht ¿ vor dem 16. Dezember und erst recht danach.
Je länger das Datum zurückliegt,
desto häufiger wird unter uns die Frage gestellt: Wie konnte es dazu kommen?
Eine Frage, die immer wieder gestellt wird, auch im Zusammenhang mit den
Verbrechen an den Sinti und Roma. Die Frage mag Ausdruck ehrlichen Entsetzens
sein, sie kann aber auch von Bequemlichkeit im Erinnern zeugen, nämlich dann,
wenn Schuld reduziert wird auf einen Zeitraum von gut zwölf Jahren, wenn
Repressalien gegen die Sinti und Roma allein mit der Zeit des Nationalsozialismus
verbunden werden. Doch Hass und Vorurteile ihnen gegenüber sind 1933 keineswegs
aus dem Nichts heraus entstanden und ¿ leider ¿ ebenso wenig nach 1945 wieder
ins Nichts entschwunden.
Wer verhindern will, dass sich
Geschichte wiederholt, wer wirklich Lehren aus ihr ziehen will, der muss am
heutigen Tag auch an die Ausgrenzung und Isolierung von Sinti und Roma vor 1933
erinnern. Bereits 1899 wurde in einem deutschen Land auf Anordnung des dortigen
Staatsministeriums des Innern ein ¿Nachrichtendienst für die Sicherheitspolizei
in bezug auf Zigeuner¿, die sogenannte ¿Zigeunerzentrale¿ errichtet. 1905 gab
ihr Leiter das ¿Zigeunerbuch¿ heraus, das steckbriefartig sehr persönliche
Angaben zu mehr als 3.350 Personen enthielt und über den Buchhandel bezogen
werden konnte. Es fand sich bezeichnenderweise niemand, der damals gegen die
Verletzung der Persönlichkeitsrechte der dort verzeichneten Personen
protestiert hätte. Als Himmler die Akten der sogenannten ¿Zigeunerzentrale¿
1938 übernahm, waren hier bereits mehr als 30.000 Personen erfasst.
Im November 1927 erhielten in
einem anderen deutschen Land alle ¿Zigeuner und nach Zigeunerart umherziehenden
Personen¿ Ausweise, die nicht nur mit dem Passbild, sondern auch den
Fingerabdrücken versehen waren und die ständig bei sich geführt werden mussten.
Die ideologische Grundlage
hierfür und für die noch viel stärkere Verfolgung und Ermordung von Sinti und
Roma wurde ebenfalls im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts gelegt. Bereits
1905 wurde in Deutschland eine sogenannte ¿Gesellschaft für Rassenhygiene¿
gegründet. 1921 erschien dann das unsägliche Werk ¿Menschliche
Erblichkeitslehre und Rassenhygiene¿, verfasst von drei deutschen Professoren.
Die rassenhygienische Hybris des Nationalsozialismus wurde daraus gegründet.
Schon dort finden sich Aussagen wie folgende: ¿Um die Fortpflanzung unsozialer
oder sonst schwer entarteter Personen zu verhüten, sollte deren Absonderung in
Arbeitskolonien ... schon heute gesetzlich in Angriff genommen werden.¿
Insgesamt werden in Deutschland
zwischen 1900 und 1933 etwa 150 Verordnungen gegen Sinti und Roma erlassen. In
ihnen finden sich Formulierungen wie ¿Bekämpfung der Zigeunerplage¿ und statt
von Familien wird von ¿Banden¿ oder ¿Horden¿ gesprochen. Dies war der
Nährboden, auf dem die Nationalsozialisten aufbauen konnten.
Es hat ¿ auch daran soll heute
erinnert werden ¿ nach dem Ende des Dritten Reiches lange, viel zu lange
gedauert, bis den Sinti und Roma die Anerkennung als Opfer des
Nationalsozialismus zuteil wurde. Im Gegenteil, Personen, die mit ihrer
abstrusen sogenannten ¿Rassentheorie¿ den ideologischen Hintergrund für die
Verfolgung von Sinti und Roma lieferten, wie etwa der Leiter des sogenannten
¿Rassenhygieneinstitutes¿, blieben nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
straffrei. Die offen rassistische Argumentation des Nationalsozialismus wurde
in den ersten Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch des Systems in verbrämter Form
fortgeführt. So hieß es etwa in einem Runderlass eines deutschen
Landes-Innenministeriums vom 22. Februar 1950 zur Frage der Wiedergutmachung
des den Sinti und Roma zugefügten Unrechts: ¿... Die Prüfung der
Wiedergutmachungsberechtigung der Zigeuner und Zigeunermischlinge nach den
Vorschriften des Entschädigungsgesetzes hat zu dem Ergebnis geführt, daß der
genannte Personenkreis überwiegend nicht aus rassistischen Gründen, sondern
wegen seiner asozialen und kriminellen Haltung verfolgt und inhaftiert worden
ist. Aus diesen Gründen ordnen wir hiermit an, daß Wiedergutmachungsanträge von
Zigeunern und Zigeunermischlingen zunächst dem Landesamt für
Kriminal-Erkennungsdienst zur Überprüfung zugeleitet werden.¿ Statt
Entschädigung erwartete die Sinti und Roma also erneute kriminaldienstliche
Überprüfung.
Vor den
Landesentschädigungsämtern gingen die Sinti und Roma weitgehend leer aus. Es
gab in dieser Frage darüber hinaus einige Fehlurteile von Gerichten bis hin zu
einem Bundesgerichtshofurteil von 1956, welches erst 1963 wieder aufgehoben wurde.
Das Gericht hatte geleugnet, dass den Sinti und Roma schon vor 1943 schweres
Unrecht zugefügt worden war und die Repressionen gegen sie mit sogenannten ¿kriminalpräventiven¿
Maßnahmen begründet. In einem Land wurde nach Kriegsende gar eine
¿Landfahrerzentrale¿ eingerichtet, die bis 1970 mit den Nazi-Akten der
deutschen Sinti und Roma arbeitete.
Im Osten Deutschlands wurde
ähnlich verfahren. Eine Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus erhielt
nur, wer nachweisen konnte, dass er wirklich aus rassischen Gründen verfolgt
wurde und zudem eine ¿antifaschistisch-demokratische Haltung¿ an den Tag legte.
Es gehört zur Ehrlichkeit im Umgang mit Geschichte, wenn wir uns auch dieser
Vergangenheit stellen.
Seit dem Ende der siebziger
Jahre hat erfreulicherweise ein deutlicher Wandel im Denken eingesetzt. Der
Völkermord an den Sinti und Roma wurde öffentlich anerkannt. Ein wichtiger
Schritt zum Abbau von Vorurteilen und zur Information über Leben und Kultur der
Sinti und Roma war die Eröffnung des Dokumentations- und Kulturzentrums der
Sinti und Roma vor fünf Jahren in Heidelberg. Ein positives Zeichen war auch
die Anerkennung der Sinti und Roma als nationale Minderheit. Sie sind wie die
sorbische, friesische und dänische Minderheit in das Rahmenübereinkommen des Europarates
zum Schutz nationaler Minderheiten aufgenommen worden. Das Abkommen wurde von
Deutschland im September 1997 ratifiziert und ist seit Februar 1998 in Kraft.
Wir sollten uns allerdings hüten
zu glauben, dass Unwissenheit über das Leben von Sinti und Roma und feindliche
Haltungen ihnen gegenüber heute bereits überwunden sind. Obwohl die Sinti seit
langem sesshaft sind, hält sich oft immer noch die Vorstellung von heimatlosen
Nomaden. Und so lange ein deutsches Amtgericht - wie noch im September 1996 -
zu der Auffassung kommen kann, ich zitiere, ¿Zigeuner¿ seien für Vermieter
unzumutbar, weil sie doch ¿traditionsgemäß überwiegend nicht sesshaft¿ lebten,
haben Beteiligte und Betroffene noch viel gemeinsame Aufklärungsarbeit zu
leisten.
Ebenso kann ich nur vor dem
gelegentlich immer noch gemachten Versuch warnen, Sinti und Roma nicht als
rassisch Verfolgte des Naziregimes anzusehen. Sie wurden nach entwürdigenden
sogenannten "rassenbiologischen" Untersuchungen als Zigeuner aus
ihren Wohnungen geworfen, von den Schulen verbannt, von ihren Arbeitsplätzen
vertrieben. Nur wegen ihrer Einordnung als sogenannter ¿Zigeuner¿ und ¿Zigeunermischling¿
kamen sie in Konzentrationslager, wurden erschossen oder in Auschwitz vergast.
Es gibt keine Menschen erster und zweiter Klasse, und es darf auch keine Opfer
erster und zweiter Klasse geben.
Vor diesem Hintergrund begrüße
ich das Vorhaben, hier in Berlin auch ein Holocaust-Denkmal für die ermordeten
Sinti und Roma zu errichten. Der Standort zwischen Reichstag und Brandenburger
Tor ist gefunden. Der Entwurf für das Denkmal liegt vor. Ich hoffe, dass nun
bald an seine Errichtung gegangen werden kann. Ich denke, dass hierzu zwischen
den Vertreterinnen und Vertretern der Organisationen der Sinti und Roma eine
für alle befriedigende Lösung gefunden werden kann. Die Realisierung dieses so
wichtigen Vorhabens bietet ganz sicher die Chance, Gemeinsamkeiten zwischen den
Interessenvertretern der Sinti und Roma in Deutschland zu betonen und Differenzen
in den Hintergrund treten zu lassen.
Auch dies gehört zur ehrlichen
Beschreibung gegenwärtiger Probleme. Die Sinti und Roma selbst könnten helfen,
mit dem geplanten Bau dieses Denkmals unsere eigene Geschichte zu verarbeiten.
In einer Demokratie werden nie alle Menschen einer Meinung sein. Aber wir
können erwarten, dass jeder dialogfähig und dialogwillig ist, mit anderen und
auch untereinander. In grundsätzlichen Fragen sollte das Gemeinsame wichtiger
sein als das Trennende.
Lassen Sie uns deshalb gemeinsam
die Erinnerung an das furchtbare Geschehen von vor 60 Jahren wach halten.
Lassen Sie uns gemeinsam gegen Gleichgültigkeit und Vergessen angehen. Wenden
wir uns gemeinsam dagegen, Geschichte zu leugnen oder sie für eigene Interessen
zu missbrauchen. Gedenken wir gemeinsam der Kinder, Frauen und Männer, die in
den nationalsozialistischen Konzentrationslagern ermordet, durch Zwangsarbeit
getötet oder in den besetzten Gebieten feige erschossen wurden. Gedenken wir
derer, die ausgegrenzt, verfolgt und misshandelt wurden.
Ich bitte Sie, meine Damen und
Herren, sich zum ehrenden Gedenken von Ihren Plätzen zu erheben.
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