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Pressemitteilungen der Ministerien

Ansprache von Ministerpräsident Professor Dr. Wolfgang Böhmer zum 10. Jahrestag der feierlichen Ausfertigung der Landesverfassung am 16. Juli 2002 in Magdeburg

16.07.2002, Magdeburg – 457

  • Staatskanzlei und Ministerium für Kultur

 

 

 

Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 457/02

 

Magdeburg, den 16. Juli 2002

 

Ansprache von Ministerpräsident Professor Dr. Wolfgang Böhmer zum 10. Jahrestag der feierlichen Ausfertigung der Landesverfassung am 16. Juli 2002 in Magdeburg

Anrede:

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident Prof. Dr. Spotka,

sehr geehrter Herr Präsident Dr. Kemper ,

sehr geehrter Herr Prof. Dr. Kirchhof,

sehr geehrte Abgeordnete,

sehr geehrte Gäste aus Justiz, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft!

Als auf den Tag genau vor 10 Jahren der damalige Landtagspräsident Dr. Klaus Keitel die Veranstaltung zur feierlichen Ausfertigung und Verkündung der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt eröffnete, konnte er mit Recht sagen: "Unsere Verfassung ist der Versuch eines Neuanfangs, jedoch keine Stunde Null".

Nicht nur, dass der Landtag der damaligen Provinz Sachsen-Anhalt schon 1947 für das Land eine Verfassung beschlossen hatte, viel mehr die Erfahrungen mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die Erfahrungen mit den Verfassungen älterer Bundesländer waren es, die in die Erarbeitung unserer Landesverfassung eingeflossen sind. Und es waren die Erfahrungen aus unserer eigenen Geschichte.

Als wir vor fünf Jahren auf den Tag genau in einer Feier zum 5. Jahrestag der Verfassung unseres Landes an die Entstehungsgeschichte erinnerten, war es der damalige Ministerpräsident Dr. Höppner, der uns zu Recht an die Erfahrungen der DDR-Zeit erinnerte, in der Aussagen einer Verfassung bis zur Bedeutungslosigkeit ausgehölt worden waren.

Nachdem vor genau 50 Jahren von der damaligen Regierung der planmäßige Aufbau des Sozialismus in diesem Teil Deutschlands beschlossen worden war, wurden nicht nur die Bundesländer aufgelöst, sondern eine zentralistische Staatsstruktur aufgebaut, in dem der einzelne Bürger das Recht als Privileg empfinden sollte, dem Staatsziel zu dienen. Und es waren nicht zuletzt auch die Intentionen der Bewegung des Herbstes 1989, die in unsere Verfassung eingeflossen sind. Es war die selbst gemachte Lebenserfahrung, dass die Begrenzung der Macht des Staates gegenüber Einzelpersonen und Menschengruppen die Voraussetzung für eine lebendige Demokratie ist.

Bei der damaligen Feier war es die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes, Frau Prof. Limbach, die uns daran erinnert hat, dass die Demokratie als Staatsform beschwerlich ist und sich durch Streitbarkeit auszeichnet. Für diesen Streit konkurrierender Interessen und seine Lösung bildet die Verfassung Rahmen und Grundlage.

Es spricht nicht gegen uns, wenn wir nach 10 Jahren der Existenz unserer Verfassung noch nicht abschließend sagen können, ob wir auf alle denkbaren Konflikte ausreichend vorbereitet sind.

Es spricht eher für die Klarheit der Aussagen in unserer Verfassung, wenn es bisher verhältnismäßig wenig Klagen wegen vermeintlicher Verstöße gegen die Verfassung gegeben hat. Allein dies ist Grund genug, auch heute wieder denjenigen zu danken, die die Erarbeitung unserer Verfassung wesentlich zu verantworten hatten. Ich danke ausdrücklich meinem Amtsvorgänger, dem damals Vorsitzenden des Verfassungsausschusses, Herrn Dr. Reinhard Höppner, und seinem damaligen Stellvertreter, Herrn Curt Becker, dem heutigen Justizminister.

In diesem Zusammenhang will ich besonders hervorheben, dass die Staatszielbestimmungen unserer Verfassung klug, d. h. maßvoll formuliert worden sind und so übertriebene Erwartungshaltungen nicht begründen können.

Gegenwärtig werde ich vom Hochschullehrerverbund mit der Forderung konfrontiert, gegen das Gesetz zur Reform der Professorenbesoldung ein Normenkontrollverfahren einzuleiten, weil es gegen das in allen Landesverfassungen und im Grundgesetz verankerte Gleichstellungsgebot verstoße.

Die Einführung variabler und leistungsabhängiger Gehaltsbestandteile in einem Bereich, in dem das bisher nicht üblich war, erscheint weder mir noch den Vertretern anderer Bundesländer als ein Verfassungsverstoß. Die besoldungsrechtliche Gleichstellung der Fachhochschulen mit den Universitäten und das Recht der Länder, den Besoldungsdurchschnitt nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel anzuheben, ist in einem gewollt föderalistisch strukturierten Staat nicht frei von Konflikten,

eine Verletzung von Verfassungsvorschriften vermag ich darin aber nicht zu erkennen. Andere Probleme sind schwieriger.

In fast allen Landesverfassungen findet sich die Vorschrift die bei uns im Artikel 81 (1) steht, wonach Haushaltsgesetze, Abgabengesetze und Besoldungsregelungen nicht Gegenstand eines Volksbegehrens sein können. Nach einer Entscheidung des Bundeverfassungsgerichts vom Juli 2000 eine Volksinitiative in Schleswig-Holstein betreffend, schließt ein solches Verbot alle Initiativen aus, die gewichtige staatliche Einnahmen oder Ausgaben auslösen und damit den Haushalt des Landes wesentlich beeinflussen. Diese Bestimmung solle die Etathoheit des Landtages sichern und damit die Leistungsfähigkeit des Staates. Nach dieser Sicht des Bundesverfassungsgerichtes geht der Begriff des Haushaltsgesetzes an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang über das förmliche Haushaltsgesetz hinaus. Er erstrecke sich auf jede finanzwirksame Gesetzgebung, die geeignet ist, den Gesamtbestand des Haushalts auch mit Blick auf den Anteil bestehender Ausgabenverpflichtungen wesentlich zu beeinflussen.

Bei uns in Sachsen-Anhalt spielte diese Frage im Jahr 2000 eine Rolle bei dem Antrag auf Durchführung eines Volksbegehrens der "Volksinitiative - Für die Zukunft unserer Kinder", bei der es um eine änderung des Kinderbetreuungsgesetzes ging. Mit Aufmerksamkeit und Interesse haben wir gelesen, wie vor wenigen Tagen der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen auf Antrag des Präsidenten des Sächsischen Landtages über die Zulässigkeit des Volksantrages "Zukunft braucht Schule" entschieden hatte. Mit dem Antrag soll die Schließung nicht mehr ausgelasteter Schulen verhindert werden, was erhebliche finanzielle Konsequenzen hätte. Nach Ansicht des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes verstößt der Volksantrag nicht gegen eine gleichlautende Vorschrift der Sächsischen Landesverfassung, weil er kein eigentliches Haushaltsgesetz betreffe. Nach der Meinung des Sächsischen Verfassungsgerichtes schließe die Verfassung nur solche Gesetze aus, deren Gegenstand der Landeshaushalt sei, nicht aber Gesetze mit finanziellen Auswirkungen auf den Landeshaushalt. So spannend kann also auch die Verfassungsgerichtsbarkeit sein.

Gleichwohl hat auch der Sächsische Verfassungsgerichtshof betont, dass die Grenze des Zulässigen überschritten wäre wenn es dem Parlament nicht mehr möglich wäre, die vom Volksgesetzgeber geschaffenen haushaltswirksamen Positionen zu beseitigen.

Uns müssen solche Interpretationen interessieren. Wir stehen in Sachsen-Anhalt vor einer grundsätzlichen Verwaltungsreform. Einen Teil der Verwaltungsaufgaben wollen wir den Kommunen übertragen. Völlig zu Recht schreibt Artikel 87 (3) unserer Verfassung vor, dass für die Kommunen ein angemessener Ausgleich zu schaffen ist, wenn die Aufgabenwahrnehmung zu einer Mehrbelastung führt. Das ist unstrittig. Aber ob das in jedem Fall auch so ist und wenn ja, in welcher Höhe, das wird uns sicher noch viel beschäftigen. Wir wollen versuchen, in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe mit den Kommunalen Spitzenverbänden möglichst einvernehmliche Lösungen zu finden. Bei allem Respekt vor der Rechtsprechung und den Verfassungsjuristen kann es nicht Aufgabe der Exekutive sein, alle strittigen Probleme den Gerichten vorzulegen. Das kaum noch durchschaubare Geflecht aus Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten der verschiedenen Verwaltungsebenen ist ohnehin schwierig genug.

Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hat das treffend umschrieben: "Wo scheinbar alle Verantwortung tragen, trägt in Wirklichkeit niemand die Verantwortung. Ein undurchsichtiges Geflecht von Kompetenzen und Finanzierungen entsteht, die Erpressbarkeit des Gesamtstaates durch in Lobbies organisierte Gruppen nimmt zu."

Dies ist ein grundsätzliches Problem der Finanzverantwortung in der Bundesrepublik. Nach allen Länderverfassungen ist das Land verpflichtet für eine solche Finanzausstattung der Kommunen zu sorgen, die sie zur angemessenen Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen. Andererseits gibt es auch Aufgabenzuweisungen durch den Bund an die Gemeinden oder deren Verbände, denen bisher keine entsprechenden finanziellen Zuweisungen gegenüberstehen. Unser heutiger Festredner, Herr Prof. Kirchhof, hat in diesem Zusammenhang von einer "Zweieinhalb-Stufigkeit" der gelebten Finanzverfassung gesprochen, die eine Modifizierung der bisherigen Strukturen durch den Gesetzgeber dringend notwendig mache.

Der Hinweis auf das Hebesatzrecht der Gemeinden als wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle löst deren Probleme nicht. Diejenigen, deren Finanznot besonders groß ist, würden sich mit einer Erhöhung des Hebesatzes nur den spärlichen Ast selber absägen, auf dem sie noch sitzen.

Da ist es gut uns daran zu erinnern, dass wir in Sachsen-Anhalt nach Artikel 2 unserer Verfassung nicht nur ein demokratischer, sondern auch in sozialer Rechtsstaat sind und sein wollen.

Auch daraus lässt sich keine konkrete Forderung im Einzelfall ableiten, wohl aber eine immerwährende Entscheidungsmaxime. Wie viel wir uns an sozialem Ausgleich gegenseitig schuldig sind, muss ohnehin jede Generation für sich selbst beantworten.

Die soziale Marktwirtschaft ¿ zu der wir uns bekennen ¿ lebt von einer immanenten, nicht auflösbaren Spannung. Einerseits sind wir alle angewiesen auf Eigeninitiative, Selbstverantwortung, Leistungsbereitschaft und Mut zum Wettbewerb vieler Einzelner ¿ andererseits muss der sozial verpflichtete Staat auch Einkommen und Lebensunterhalt für diejenigen bieten, die nicht am Erwerbsleben teilnehmen können. Neben der politischen Gestaltungskraft der Legislative und dem Durchsetzungsvermögen der Exekutive sind es bei der inhaltlichen Bestimmung sozialstaatlicher Postulate auch häufig wieder Verfassungsgerichte, die im Einzelfall konkrete Entscheidungen treffen müssen.

Das macht ¿ so scheint es mir ¿ eine gute Verfassung aus, dass sie

 

 

der Legislative die politisch-ethische Zielvorstellung formuliert, die sie selbst nur mit einem besonderen Quorum ändern kann

der Exekutive die Vollmacht zur Umsetzung und Verwirklichung politischer Ziele ermöglicht und dafür auch Grenzen setzt und

der Judikative den Rahmen zur konkreten Einzelentscheidung ermöglicht.

 

Nach allem, was wir nach nur zehn Jahren eigener Erfahrung mit unserer Verfassung sagen können, erfüllt sie diese Aufgabe. Sie ist kein scholastisches Regelwerk, sondern allgemein genug, wo sie offen sein muss für die Probleme der Zukunft und konkret genug, wo nach ihren Geboten entschieden werden muss.

Ich wünsche uns und dem Land Sachsen-Anhalt, dass noch möglichst viele Generationen nach uns das gleiche von unserer Verfassung sagen können.

 

 

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