Pressemitteilungen der Ministerien
Antrittsansprache des Ministerpräsidenten von
Sachsen-Anhalt, Prof. Dr. Wolfgang Böhmer, als Präsident des Bundesrates am
Freitag, 8. November 2002, in Berlin
08.11.2002, Magdeburg – 703
- Staatskanzlei und Ministerium für Kultur
Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 703/02
Staatskanzlei - Pressemitteilung
Nr.: 703/02
Magdeburg, den 8. November 2002
Antrittsansprache des Ministerpräsidenten von
Sachsen-Anhalt, Prof. Dr. Wolfgang Böhmer, als Präsident des Bundesrates am
Freitag, 8. November 2002, in Berlin
Herr Bundeskanzler,
verehrte Kolleginnen und
Kollegen,
meine sehr geehrten Damen und
Herren,
es gehört zu den guten
Traditionen im Bundesrat, dass der für das neue Geschäftsjahr turnusgemäß
gewählte Präsident mit einer kurzen Ansprache sein Amtsjahr beginnt. Dabei ist
es auch mir ein wichtiges Anliegen, meinem Vorgänger im Amte des
Bundesratspräsidenten, Herrn Regierenden Bürgermeister Wowereit, ganz herzlich
für seine Amtsführung zu danken. In diesen Dank schließe ich auch die übrigen
Mitglieder des Präsidiums und die Mitglieder des Ständigen Beirates ein. Dank
gebührt nicht zuletzt auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
Sekretariats des Bundesrates.
Sie haben die Arbeit des
Bundesrates in bewährter und perfekt eingespielter Weise unterstützt. Viele
Verfahren sind fest geregelt und so zur Gewohnheit geworden, dass der jährliche
Wechsel der Präsidentschaft den inneren Arbeitsablauf kaum noch stört. Nur
dadurch ist die Wahrnehmung des Amtes mit den Pflichten eines Ministerpräsidenten
in einem entfernt liegenden Land überhaupt vereinbar. Deshalb auch mein Dank
für die Einbindung in bewährte und tradierte Arbeitsabläufe.
Mein Vorgänger im Amt hat am
Ende seiner Präsidentschaft auf eine für ihn schwierige Auslegung einer
Verfassungsvorschrift hingewiesen, die jetzt beim Bundesverfassungsgericht
anhängig ist. In der Frage, ob Klarheit über die definitive Uneinheitlichkeit
einer Stimmabgabe bestanden habe oder ob in zulässiger Weise durch den Präsidenten
ein Bewertungsspielraum durch Nachfrage genutzt worden sei, sind wir unterschiedlicher
Meinung. Da dieser Meinungsunterschied in direkter Weise mit der Bewertung des
Abstimmungsgegenstandes korreliert, ist es sicher für uns alle hilfreich, wenn
das Bundesverfassungsgericht jetzt darüber entscheidet. Jeder von uns weiß,
dass die Ausübung dieses Amtes für jeden von uns erleichtert wird, wenn Entscheidungen
im Rahmen der Sitzungsleitung nicht, aus welcher Perspektive auch immer,
angezweifelt werden. Entscheidungen braucht unser Land.
Nach der Bundestagswahl vor
wenigen Wochen ist Ihnen, Herr Bundeskanzler, erneut dieses Amt übertragen
worden. Namens des Bundesrates darf ich Ihnen dazu unseren Glückwunsch
aussprechen und Ihnen gute Entscheidungen für unser Land wünschen. Ihre
Anwesenheit während der ersten Sitzung des Bundesrates nach Ihrer Wiederwahl
möchte ich als Geste der Zusammenarbeit mit dem zweiten Gesetzgebungsorgan
unseres Bundesstaates werten.
Diese Zusammenarbeit war nicht
immer spannungsfrei und wird es im Sinne unseres Demokratieverständnisses wohl
auch in Zukunft nicht immer sein. Während der letzten Jahre haben alle meine
Vorgänger in diesem Amt auf dringend notwendige Reformen in Deutschland
hingewiesen und zu Entscheidungen dazu aufgerufen. Diese Notwendigkeit ist eher
größer geworden. Der Bundesrat wird alle ihm zugestellten Vorlagen fristgemäß
bearbeiten. Er muss aber seinerseits darauf bestehen, dass regelhaft
vereinbarte Zeitabläufe auch respektiert werden und ihm ausreichend Zeit zur
Beratung bleibt.
Wenn unterschiedliche Mehrheiten
zu unterschiedlichen Entscheidungen kommen, stehen wir regelmäßig vor der Wahl,
uns gegenseitig zu blockieren und gemeinsam den Stillstand zu beklagen oder in
Vermittlungsgremien aufeinander zuzugehen und miteinander einen demokratischen
Kompromiss zu finden. Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich sage, dass
eine große Mehrheit der Menschen in unserem Land genau dies von uns Politikern
erwartet. Auch auf einer ganz anderen Ebene werden wir für Kompromisse werben
und darum bemüht sein müssen, wenn wir wenigstens einige für uns wichtige
Zielvorstellungen mehrheitsfähig machen wollen.
Die vorgesehene Erweiterung der
Europäischen Union hat eine lebhafte Diskussion über künftige Strukturen und
deren Kompetenzzuordnung ausgelöst. Für den Bundesrat ist unser Kollege Erwin
Teufel offizielles Konventmitglied und dort Mitglied der Arbeitsgruppe
Subsidiarität. Auch von dieser Stelle aus danken wir ihm für sein großes
Engagement und für sein Werben für die Respektierung regionaler Parlamente.
Mitte November wird in Florenz
die Dritte Konferenz der Präsidenten von Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen
stattfinden.
In acht von 15 Mitgliedsstaaten
bestehen 74 Regionen, in denen 56 Prozent der EU-Bevölkerung leben, die
über eigene Parlamente mit Gesetzgebungsbefugnis und eigene Regierungen
verfügen. Alle politischen Ebenen mit Gesetzgebungsbefugnissen sollten Partner
im europäischen Entscheidungsprozess sein und in geeigneter Weise einbezogen
werden.
Nach unserer Meinung kann die
Europäische Union ihre Ziele hinsichtlich Demokratie, Transparenz, Effizienz,
Flexibilität, Bürgernähe, Effektivität und politischer Glaubwürdigkeit nur
erreichen, wenn sie den Regionen mit Legislativbefugnissen deren Handlungsmöglichkeiten
lässt. Diese Sicht wird nicht von allen europäischen Staaten geteilt.
Wir sehen in unseren Strukturen
eines föderalen Bundesstaates eine Garantie für Demokratie und Stabilität, die
wir weiter empfehlen möchten, insbesondere jenen Staaten mit chronischen
regionalen Konflikten. Nur totalitäre Staaten sind unfähig, mit föderalen
Strukturen zu leben. Das war so, als 1933/34 auf der Grundlage eines Ermächtigungsgesetzes
die Länderparlamente aufgelöst und die Länderregierungen als bloßes
Verwaltungsorgan der Reichsregierung unterstellt wurden, und das war wieder so,
als 1952 im damals sowjetisch besetzten Teil Deutschlands die Länderstrukturen
erneut aufgelöst wurden, um einfache nachgeordnete Verwaltungsbezirke zu schaffen.
In Respekt vor den bewährten Strukturen der Bundesrepublik hat nach der politischen
Wende das erste frei gewählte Parlament der ehemaligen DDR die Wiedereinführung
der Länder beschlossen. Neben der Einbindung der Bürgerinnen und Bürger in ihr
alltägliches Wohnumfeld in Dörfern und Städten ist es die Identität mit ihrem
Land und die Loyalität zu den gesamtstaatlichen Institutionen, die die
Stabilität unserer Staatsform ausmachen. Deshalb glauben wir, diese Erfahrungen
auch der Europäischen Union empfehlen zu dürfen. Auf diese Weise können auch
die Regionen in einem vereinten Europa entscheidend dabei mitwirken, aus der
Vielfalt eine politische Einheit wachsen zu lassen. Das setzt aber auch voraus,
dass wir unter uns die Strukturen bei tatsächlichen Entscheidungen
respektieren, die wir bei feierlichen Anlässen so schätzen.
Ich selbst gehöre zu jenen
Bürgern, die nicht in diese Strukturen hineingeboren wurden und die sie erst
erlernen mussten. Dazu hilfreich waren mir auch die Ansprachen meiner Vorgänger
in diesem Amt bei deren Amtsübernahme.
Es ist schon beeindruckend zu
lesen ¿ und manche unter Ihnen werden sich erinnern ¿ wie von Jahr zu Jahr aus
unterschiedlicher Perspektive und in unterschiedlicher Modulation letztlich die
gleichen Schwierigkeiten bei der Kompetenzabstimmung der einzelnen Gremien im
föderalen System der Bundesrepublik angesprochen wurden. Viele dieser Probleme
konnten immer noch nicht einvernehmlich gelöst werden. Deshalb bitte ich es mir
nicht als Einfallslosigkeit anzurechnen, wenn ich das eine oder andere noch
einmal anspreche. Zum einen, weil der Konflikt immer noch besteht und zum anderen,
weil möglicherweise jetzt die Voraussetzungen für eine Lösung günstig sein
könnten. Dabei geht es nicht nur darum, dass der Bundeskanzler der fünfte in
Folge ist, der vorher Mitglied des Bundesrates war. Bisher wohl erstmalig sind
neben ihm noch drei weitere ehemalige Ministerpräsidenten eines Landes in
seinem Kabinett. Das sollte uns zu der Hoffnung berechtigen, auf
Gesprächspartner zu treffen, die die Probleme der Länder und des Bundesrates
sehr genau kennen. Und davon gibt es viele.
Es bleibt die ureigenste Aufgabe
von Bund und Ländern, sich selbst und ihr Verhältnis zueinander, also die
föderale Ordnung so zu organisieren, dass die anstehenden Aufgaben in diesem
System bewältigt werden können. Die Rahmenbedingungen, die durch den
Staatsaufbau und die Staatsorganisation gesetzt werden, sind natürlich noch
nicht selbst die Lösung der gesellschaftlichen Probleme. Sie sind aber eine zentrale
Voraussetzung für einen leistungsfähigen Staat und damit auch für die Leistungsfähigkeit
und das Innovationspotenzial der Gesetzgebungskörperschaften.
Wenn ich von der
Reformbedürftigkeit des Föderalismus spreche, meine ich übrigens nicht den
Bundesrat selbst. Mit dem Bundesrat verfügt Deutschland über ein Instrument,
das gut geeignet ist zur Bewältigung auch großer gesellschaftlicher Herausforderungen.
Das beweisen die Eingliederung der neuen Länder, die solidarische Begleitung
des gewaltigen Transformationsprozesses in diesen Ländern, die Assimilation
völlig unterschiedlicher Sozialstrukturen, und nicht zuletzt das Flutopfersolidaritätsgesetz
zur Behebung der Hochwasserschäden. Bundesrat und Bundestag wirken in der ganz
überwiegenden Zahl der Fälle reibungslos zusammen. Der Bundesrat hat in den
vergangenen mehr als fünfzig Jahren eine hohe Anpassungsfähigkeit gezeigt und
unterschiedlichste politische Leitbilder und Problemstellungen aufgenommen und
verarbeitet.
Gefordert sind jedoch
Strukturveränderungen bei der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern und
bei der Finanzverfassung. Auf der Tagesordnung stehen Reformvorhaben zu der
Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern einer Reform der
Mischfinanzierungstatbestände und der Stärkung der Ge-staltungskompetenzen bei
den Landes- und Kommunalsteuern.
Es ist zwischen Bund und Ländern
unstrittig, dass es ¿ angesichts der zunehmenden Vermischung von Landes- und
Bundeskompetenzen und einer inzwischen unflexiblen Finanzverfassung ¿
erforderlich ist, Entflechtungen vorzunehmen, durch die die Eigenverantwortung
und die Handlungsspielräume von Bund und Ländern erweitert werden. Die
Regierungschefs von Bund und Ländern haben dazu verschiedene Arbeitsgruppen
eingesetzt und beschlossen, die Verhandlungen über die Reformschritte bis Ende
2003 abzuschließen. Die gesetzliche Umsetzung der Reformen soll bis Ende 2004
erfolgen.
In Zusammenhang damit steht auch
das Thema der Gemeindefinanzreform, für die wir gleichfalls gemeinsam mit dem
Bund bis Mitte 2003 Lösungsvorschläge erarbeiten wollen. Es kommt darauf an,
den Gemeinden durch die künftige Ausgestaltung des Steuersystems eine
gesicherte und eigenständige Finanzierungsbasis zu schaffen.
Weitere einseitige Aufkommens-
und Lastenverschiebungen vom Bund auf Länder und Kommunen müssen vermieden werden.
Die Finanzsituation unserer
Kommunen wird bundesweit als katastrophal empfunden. Sie ist dort am
schwierigsten, wo die Einnahmen am geringsten, die Wirtschaftskraft am
niedrigsten und die Ausgaben wegen jahrelanger hoher Arbeitslosigkeit besonders
im Sozialhilfebereich relativ am höchsten sind. Die von vielen geforderte Zusammenlegung
von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe mag formal richtig sein, ist aber ohne
eine grundlegende Gemeindefinanzreform nicht denkbar. Mit dem Grundsicherungsgesetz
haben wir den Kommunen eine zusätzliche Aufgabe übertragen und eine zusätzliche
Summe Geld angeboten. Wenigstens unsere Kommunen rechnen mir vor, dass damit
etwa ein Drittel der Ausgabenverpflichtungen erstattet würden, die sie jetzt
übertragen bekommen haben.
Als Anfang November 1998 der
damalige hessische Ministerpräsident Hans Eichel dieses Amt übernahm, ist er in
seiner Antrittsrede ausführlich auf diese Probleme eingegangen. Die
Beschränkung der Bundesgesetze auf das bundeseinheitlich erforderliche Maß der
Regulierung und eine grundsätzliche Anpassung der Finanz- an die Kompetenzstrukturen
wurde damals schon von ihm gefordert. Ich will es wenigstens als Hoffnung
formulieren, dass die Kenntnis beider Seiten des Problems einer Lösungsfindung
eher nützen sollte, als dass es sie erschweren könnte.
Es wird andere Probleme geben,
bei denen wir unter uns mit den gleichen Begriffen möglicherweise doch nicht
das Gleiche meinen.
Ich komme aus einem Land und
persönlich aus einer Gegend Deutschlands, mit der die Geschichte eigene Wege
gegangen ist. Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit wurde fast täglich
strapaziert mit dem Ziel, die sogenannte soziale Frage mit gesellschaftspolitischen
Maßnahmen zu lösen. Der Elitegedanke war verpönt ¿ mit Ausnahme des Sports, wo
er außenpolitisch hilfreich sein sollte. Ansonsten war es erklärtes Staatsziel,
soziale Gerechtigkeit durch ein hohes Maß an Umverteilung von Eigentum und
Entgelten zu erreichen. Die sogenannte zweite Lohntüte, das waren die zur
Subventionierung von Preisen weit unter die Herstellungskosten umgesteuerten betrieblichen
Abführungen und abgeschöpften Steuern, war am Ende größer als die erste, die
der ausgezahlten Löhne. Wir haben erlebt, dass man die Menschen schließlich
einmauern musste, um sie auf diese Weise zu beglücken. Wir haben erlebt, dass
diese Staatsdoktrin nicht nur nicht erfolgreich war, sondern am Ende in sich
selbst zusammengebrochen ist.
Ich erinnere nur daran, um zu
begründen, dass ein gut gemeintes Ziel noch lange nicht jede Methode
rechtfertigt, es zu erreichen. Ich erinnere nur daran, weil wir mit dem Begriff
¿soziale Gerechtigkeit¿ auch heute noch untereinander argumentieren, ohne dass
er jemals definiert worden wäre und ohne dass wir sagen könnten, worin denn
dieses Ziel besteht und wann denn dieser Zustand erreicht sein könnte. Er ist
zur beliebigen, den Leistungswillen demotivierenden Umverteilungsbegründung geworden
¿ und das ist schade.
Wir hätten es besser wissen
können.
Ich bezweifle ausdrücklich nicht
die Richtigkeit der Forderung von Willy Brandt, dass in einer solidarischen
Gesellschaft die starken Schultern mehr tragen müssen als die schwachen. Dafür
sorgt schon die Progredienz der Besteuerungskurve, die schon vor ihm eingeführt
worden war. Aber ebenso richtig ist die schon in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts von Abraham Lincoln formulierte Mahnung, dass wir die Schwachen
nicht stärken, in dem wir die Starken schwächen. Auch wir werden den Menschen
nicht auf Dauer helfen, wenn wir als Staat für sie tun, was sie selber für sich
tun sollten und können. Als Verantwortliche in einem Staat sollten wir nur
dafür sorgen, dass sie es können. Deshalb ist es ein richtiges Ziel, zu fördern
und zu fordern. Ich vermute, dass wir in der nächsten Zeit über nicht wenige
Vorschläge dazu werden entscheiden müssen.
Auch dabei halte ich es für
wenig wahrscheinlich, dass wir immer einer Meinung sein werden.
Das wiederum war auch schon so,
als Anfang November 1997 der damalige niedersächsische Ministerpräsident und
heutige Bundeskanzler Gerhard Schröder seine Antrittsrede als neugewählter
Präsident des Bundesrates hielt. Er hat damals deutlich gemacht, dass es kein
Versagen der bewährten bundesstaatlichen Ordnung sei, wenn der Bundesrat
Vorgaben der Bundesregierung oder des Bundestages ablehnt, sondern nur ein
Beweis der Funktionsfähigkeit und der Selbstregulierung in einem föderalen
Bundesstaat. Seinem damals geäußerten Verdacht, dass Bundesregierung und
Bundestag den Bundesrat nur politisch vorführen und öffentlich diskreditieren
wollten, wenn sie ihm Gesetze vorlegen, von denen sie wüssten, dass ihnen eine
Mehrheit des Bundesrates nicht zustimmen kann, würde ich - bei allem Respekt
vor dem jetzigen Amt - nicht beipflichten wollen.
Dass der faire demokratische
Meinungsstreit um den besten Weg und die beste Alternative für ein gemeinsam
als dringend lösungsbedürftig empfundenes Problem der Sache selbst letztlich
mehr dient als ein blauäugiges Konsensbedürfnis, das haben auch jene längst
begriffen, die wirklichen demokratischen Parteienpluralismus erst relativ spät
miterleben konnten. Aber eine natürliche Skepsis kommt ¿ auch bei mir ¿ immer
dann auf, wenn der Streit über eher nebensächliche Unterschiede so groß wird,
dass die Sicht auf die Gemeinsamkeit in der Hauptsache verdeckt bleibt.
Ich hatte große Mühe zu
verstehen, warum es jahrelanger intensiver Gespräche bedurfte, bis es möglich
war, in einer betont atheistischen Umwelt zwischen den beiden christlichen
Kirchen einen gemeinsamen Religionsunterricht für die wenigen Kinder beider
Konfessionen zu organisieren, die das überhaupt noch wünschten. Mir ist das
Problem erst deutlicher geworden, als ich mir meinerseits sagen lassen musste,
dass aus der Sicht der großen Zahl parteiloser Mitbürger wir in den politischen
Parteien uns genau so verhalten würden. Kollege Platzeck aus Brandenburg hat
kürzlich in einem öffentlichen Vortrag gesagt, dass die Ostdeutschen in ihrer
Mehrheit weder politikverdrossen noch rückwärtsgewandt oder handlungsmüde
seien. Aber sie begegnen den parteipolitischen Ritualen mit Ablehnung, weil
häufig in dem Meinungsstreit der gemeinsame Problemlösungswille eben nicht mehr
erkennbar sei.
Ich meine, das trifft auf die
Debatten im Bundesrat nicht zu. Parteipolitische Orientierung und Polarisierung
ist bisher im Bundesrat keine Dauersituation gewesen. So gilt sein
Verhandlungsstil als nicht gerade spektakulär, dafür aber ausgesprochen sachdienlich.
Soweit es mir irgend möglich ist, möchte ich alles tun, dass dies auch so
bleibt.
Ebenso wenig vermag ich es als
spektakulär anzusehen, dass ein Vertreter aus einem sogenannten jungen Land
jetzt die Funktion des Bundesratspräsidenten übernimmt. Die Einheit der
Deutschen in einem einzigen Bundesstaat ist inzwischen unspektakuläre
Normalität ¿ sowenig die meisten von uns sich das vor weniger als zwei
Jahrzehnten auch vorstellen konnten.
Die Entwicklung des
Einigungsprozesses war der Beweis für die Überlegenheit föderaler Strukturen.
Wir müssen auch den gelegentlich strapazierten Begriff eines Wettbewerbsföderalismus
nicht fürchten, wenn wir uns auf die schlichte Selbstverständlichkeit einigen,
dass zu einem fairen Wettbewerb Chancengleichheit beim Start gehört. Dies kann
noch nicht der Fall sein. Die Vorteile des Föderalismus, aus Ungleichheiten
Chancen zu mehr eigener Kreativität abzuleiten, verschwinden durch zunehmende
zentralistische Vereinheitlichung.
Was in der Wirtschaft schlichte
Selbstverständlichkeit ist, gilt im öffentlichen Dienst bereits als Tabubruch.
Auch das Recht der Länder, innerhalb bundesstaatlicher Rahmengesetze einen
größeren eigenen Gestaltungsfreiraum zu bekommen, würde niemandem schaden,
langfristig aber allen nutzen. Insofern wird es auch weiterhin Aufgabe des
Bundesrates bleiben, den Vereinheitlichungsverheißungen sogenannter ¿vertikaler
Fachbruderschaften¿ zu widerstehen und deutlich zu machen, dass nur aus der
Ungleichheit Chancen zu eigener Kreativität erwachsen.
Wir sind in vielen unserer
öffentlichen Ordnungssysteme überreguliert. Das gilt auch für unsere
gemeinsamen Sozialsysteme, für die von uns allen unbestritten dringender
Reformbedarf besteht. Da viele dieser Probleme in die Länderkompetenz hineinreichen,
muss sich auch der Bundesrat im nächsten Jahr damit befassen.
In allen diesen Systemen muss
der Weg zu mehr Eigenverantwortung weitergegangen werden. Es wird heut kaum
noch verstanden, dass die Einführung der dualen Finanzierung mit der
sogenannten Bismarckschen Sozialgesetzgebung ein erster Schritt zur eigenen
Mitverantwortung war. Genau diesen Weg werden wir weiter gehen müssen ¿ auch im
Interesse aller Länder.
Wir sagen zu Recht, dass die
Stabilität des Sozialstaates Deutschland in den kommenden Jahren von unserer
Fähigkeit abhängen wird, innovativ neue Strukturen durch Reformen zu
entwickeln. Die Quelle innovatorischer Entwicklung ist der Wettbewerb auch in
einem kooperativen Föderalismus.
Die Länder haben die Pflicht,
ihre Selbständigkeit und ihre Vielfalt als Quelle dieser Entwicklung zu
erhalten. In diesem Sinne tragen wir eine gemeinsame Verantwortung.
Im Sinne dieser gemeinsamen
Verantwortung hoffe ich als Bundesratspräsident mit dazu beitragen zu können,
dass wir gemeinsam Lösungen finden und die Bürgerinnen und Bürger in ihren
Erwartungen an die Politik nicht enttäuscht werden.
Ich danke Ihnen.
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